Meine Erinnerungen ab 5. März 1945

Helga Hoefer, geb. Falck

Helger Höfer
fluechtlinge-1945

Mit 7 Jahren aus der pommerschen Heimat vertrieben.

Unser Weg führte uns von Lüttmannshagen Kreis Cammin in Pommern bis nach Schleswig - Holstein wo wir eine neue Heimat fanden.

Wir schreiben das Jahr 1945. Ich wohne mit meiner Mutter Hilda Falck, geb. Pöpke, auf einem kleinen Bauernhof in Lüttmannshagen, Kreis Cammin, in Pommern. Mit uns zusammen leben dort noch meine Brüder Otto, geb. 25.4.1939 und Winfried, geb .am 19.5.1941. Unser Vater befindet sich seit 1943 im Krieg. Meine Eltern betreiben die Siedlung seit 1938, wir haben Kühe, Schweine, Pferde und Federvieh. Alle sind glücklich und zufrieden. Von den Sorgen unserer Eltern spüren wir Kinder nichts.

Karl Falck Lüttmannshagen

Bis zum 5. März 1945. Der Krieg kam immer näher an unser beschauliches Anwesen und wir erhielten an diesem Tage die Erlaubnis zur Flucht, d.h. wir mussten vor dem herannahenden Geschützdonner unsere Heimat verlassen.

Am Vormittag rief meine Mutter uns Kinder zusammen. Sie war ganz ernst und traurig wie eigentlich immer in der letzten Zeit. Sie gab mir meinen Schulranzen und meinen Brüdern je einen kleinen Rucksack mit allem, was man im Notfall braucht. Einmal Unterwäsche, warme Socken und einen Pullover. Jeder bekam auch einen kleinen Stoffbeutel um den Hals zu tragen. Darin waren alle Informationen, für den Fall, dass wir verloren gingen. Wir hatten das alles nicht richtig verstanden, behielten den Beutel aber immer um den Hals. Nun durften wir endlich auf den Planwagen, der schon lange in der Scheune stand. Darauf waren Kisten, Kartons, Teppiche und alles, was meiner Mutter wichtig war, verstaut. Wir hatten dort schon häufiger heimlich gespielt und fanden ihn irgendwie geheimnisvoll. Nun sollte die Fahrt endlich losgehen und wir machten es uns in den Federbetten bequem. Zum Schluß gab Mutter uns noch zwei Bleche mit noch warmen Streuselkuchen auf den Wagen, die wir vorsichtig abstellten.

Unsere dem Hof zugeteilten polnischen Fremdarbeiter Jan und Hedwig sowie unsere Mutter saßen vorn auf dem Wagen und die Pferde liefen im Trab vom Hof. Die Erwachsenen sprachen so komisch miteinander und alle waren traurig. Jan schlug vor, den kürzeren Weg durch die Wiesen nach Hammer zu nehmen in der Hoffnung, dort noch unseren Großvater Otto Falck mit seinem Treck anzutreffen. –Ob wir hier je noch einmal wieder herkommen? – Jan sagte nichts.Wir Kinder entdeckten nun wieder den Streuselkuchen und fingen an, uns davon ein Stück abzubrechen. Dadurch kamen wir in gute Stimmung obwohl wir nicht verstanden, dass die Erwachsenen sich so komisch verhielten. In Hammer angekommen, trafen wir weder am Ortseingang noch auf den Straßen Menschen an. Auch der Hof unseres Großvaters war verlassen

Otto Falck Hammer

Alle waren weg. Mama und Jan wussten, dass unser Opa in Richtung Swinemünde in den Westen flüchten wollten. Dort wollte er die Brücke über das Haff benutzen. Da wollten aber auch die anderen Flüchtlinge und auch Teile des Militärs hin. Nun war die Sorge groß. Wie sollten wir denn unsere Angehörigen finden ? Die Straße war überfüllt. Ich sah rechts und links in den Straßengräben umgekippte Wagen, schreiende Frauen und Kinder. Es war so ein Durcheinander, wie ich es noch nie gesehen hatte.Meine Mutter war sehr aufgeregt und in großer Sorge. Hedwig lief neben dem Wagen her und erkundigte sich so gut wie möglich nach dem Hammer Treck. Niemand hatte ihn gesehen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und wollte nur weiterkommen.

Plötzlich entwickelte sich das Durcheinander zu einem Chaos. Jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, drehte seinen Treck auf der Straße um und versuchte zurück zu fahren. Der Grund war, dass die Brücke in Swinemünde gesprengt werden sollte, sodass keiner mehr hinüberfahren konnte. Bei allem Unglück hatten nun ein kleines Glück: Wir fanden den Hammerchen Treck unter Leitung unseres Großvaters. Mama war etwas erleichtert und wir schlossen uns dem Treck von etwa 7 – 9 Fahrzeugen an. Opa kannte sich im Umkreis von 20 bis 25 km bis zu Oder gut aus und er entschloss sich, durch Wälder und Nebenstraßen in Richtung Stepenitz zu kommen. Dort hoffte er noch eines von mehreren Fährschiffen über das Haff zu erreichen. Er sagte zu allen, dass wir mit Pferd und Wagen nicht mehr über die Oder kämen aber wir erreichen müssten, die jungen Frauen und Kinder auf ein Schiff zu bekommen.Als wir nun in Stepenitz ankamen, war der Ort voll mit Menschen, Pferden und Wagen.

Kinderwagen, die verzweifelte Frauen schoben, Handwagen, die von alten Menschen gezogen wurden. Opa ließ den Treck nun anhalten, erklärte noch einmal die Situation und fragte, wer mit etwas Handgepäck auf das Schiff wolle. Mit den anderen beabsichtigte er, sich mit den Gespannen im nächsten Wald vor den herannahenden Russen zu verstecken.

Fischereihafen Stepenitz

Fischereihafen Stepenitz

Meine Mutter besorgte sich zwei Lederriemen. Einen band sie um mein Handgelenk, das andere Ende um das Handgelenk meines Bruders Otto. Der wiederum bekam an das andere Handgelenk den zweiten Lederriemen und wurde mit Winfrieds Handgelenk verbunden.

Mutter nahm nun Winfried an ihre eine Hand, in der anderen Hand trug sie einen Koffer und auf dem Rücken einen Rucksack. Auch wir Kinder hatten unser kleines Gepäck auf dem Rücken. Mit uns gingen noch unsere Tante Elsbeth Raddü, geb. Falck, (Vaters älteste Schwester) mit Ihrem Sohn Bernd, und Tante Käthe, (Vaters jüngste Schwester). Opa ging voran, mit Bernd auf der Schulter, so konnte ich mich orientieren. Es waren so viele Menschen dort dicht aufeinandergedrängt, sodass ich Mama nicht mehr sehen konnte. Ich fiel auch oft hin, wurde aber Dank des Riemens an Otto´s Handgelenk immer wieder hochgezogen. Endlich sah ich auch etwas vom Schiff und dass Opa mit dem Kapitän sprach. Kurz zuvor sah ich, wie eine Frau mit einem Kinderwagen ins Wasser fiel.

Nun wurde ich auf das Schiff gezogen und es legte auch sofort ab. Wir waren ungefähr auf der Mitte des Haffs, als viele Feuerkugeln in das Wasser spritzten. Es sah alles so bunt aus, die Erwachsenen waren in großer Sorge, denn das Schiff wurde von den herannahenden Russen schon beschossen. Das Schiff legte am anderen Ufer in Ziegenort an. In einem großen Raum übernachteten wir zwischen dem ganzen Gepäck und versuchten zu schlafen. Es war noch nicht ganz hell, als wir von Tante Elsbeth geweckt wurden. Der Russe hätte über die Oder gesetzt und wir müssten sofort weiter. Die Frauen stellten sich auf die Straße und hielten deutsche Militärkraftwagen an. Die nahmen uns auch soweit sie konnten, mit. Das haben die Frauen ein paar Mal wiederholt. Irgendwann sind wir dann in Sanskow bei Demmin in Vorpommern angekommen. Dort wohnten die Schwiegereltern unserer Tante Grete Lemcke, geb. Falck. Die nahmen und alle auf. Ich erinnere mich, dass es warme Frühlingstage waren.

Wir feierten dort auch Ostern und alles war friedlich. Dort musste ich auch die Schule besuchen, kam in die zweite Klasse und Otto wurde eingeschult. Ich hatte eine normale Tafel, aber nur in einer Ecke war ein Stück Schiefer.

Mit einem abgebrochenen Stück schrieb ich. Die schöne ruhige Zeit war bald zu Ende. Die Kriegsgeräusche kamen immer näher und Tante Elsbeth trieb uns weiter zur Flucht Richtung Westen. So packten wir wieder unsere Habe, etwas Proviant und zogen los. Die Frauen hielten wieder Militärlastkraftwagen an, die uns immer wieder ein Stück mitnahmen. Die Hauptrichtung wurde von Tante Elsbeth in Richtung Lübeck vorgegeben. Auch Soldaten befanden sich auf den Lkws, die uns mit Schokolade verwöhnten. Ich scherzte mit ihnen und fragte sie, was sie mir am nächsten tag zu meinem Geburtstag schenken wollten.

Es ist heute der 1. Mai 1945, mein 8. Geburtstag. Die Soldaten waren weg. Die Frauen hatten wieder einen anderen LKW angehalten und wir erreichten an diesem Tage Lübeck. Unsere Unterkunft fanden wir in Rensefeld, bei Bad Schwartau, die Adresse eines Kameraden von Fritz Raddü, dem Ehemann von Tante Elsbeth. Heute weiß ich, es war das beste Geburtstagsgeschenk.

Rensefeld

Rensefeld

In der Scheune eines großen Bauernhofes wurden wir untergebracht. Endlich konnten wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Wäsche wieder waschen. Nach ein paar Tagen sahen Mutter und meine Tanten, dass die Mägde des Hofes die Kreuzstickerei mit den Monogrammen aus unseren Handtüchern entfernten. Darüber waren wir sehr enttäuscht, hatten wir doch sowieso so wenig mitbekommen.

Meine Mutter war sehr schwach von den Anstrengungen der Flucht geworden und wurde krank.

Wir bekamen ein Zimmer zugewiesen. Dort saß sie immer in einem großen Lehnsessel mit Decken zugedeckt und fror trotzdem ständig. Es gab auch nicht viel zu essen. Wir Kinder spielten am Dorfteich, fischten dort weißes Brot heraus, was wir nicht kannten. Meine Mutter verbot uns, das Brot zu essen. Es war Weißbrot, das die Amerikaner in den Teich geworfen hatten und aufgequollen war. Bald mussten wir das Haus verlassen. Es wurde von den Briten beschlagnahmt, die diese Besatzungszone von den Amerikanern übernommen hatten. Unser nächstes Quartier wurde eine Wohnung über einer Bäckerei in Bad Schwartau. Das Haus lag an der Hauptstraße in einer Kurve. Bereits morgens um halb fünf quietschte die Straßenbahn dort vorbei und ich konnte schlecht schlafen.

In dieser Zeit gab es Lebensmittelkarten. Für Winfried wurde ein Liter Milch und für Otto und mich je ein halber Liter zugeteilt. Das war sehr gut für unsere große Familie, wir waren immer noch 3 Frauen und vier Kinder. Eines Tages wurde ein Wehrmachtsdepot aufgelöst und es gab eine Zuteilung über Käse, die nach der Personenzahl eines Haushalts berechnet wurde.

Wir bekamen einen ganzen großen runden Käse und mehrere kleine Stücke. Den großen Käse rollten wir den Berg hinunter, die kleinen Stücke aßen wir gleich auf. Der Käse schmeckte auch ohne Brot wunderbar. Mutter und Tanten freuten sich, dass es endlich wieder was zu essen gab.

Eines Tages im Sommer erhielten wir Post von unserer Tante Grete Lemcke, geb. Falck. Sie wohnte bei Otterndorf in Niedersachsen. Sie schrieb uns, dass unser Vater in Assel bei Stade in einem britischen Gefangenenlager sei und dass er sie dort besucht habe.

Meine Mutter war überglücklich, fuhr mit der Bahn über Hamburg nach Stade und von dort mit dem Bus nach Assel. Mein Vater übernachtete dort mit seinen Kameraden in Zelten. Am Tage durften die Gefangenen bei den ortsansässigen Bauern arbeiten. Das hat unser Vater gerne getan. Er schmiedete auch sofort Pläne, wie er für unsere Familie eine Wohnung bekommen könne. Nach ihrer Rückkehr erzählte unsere Mutter uns alles und wir Kinder wollten natürlich sofort zu unserem Vater.

Das Gefangenenlager befand sich auf dem Gelände einer stillgelegten Ziegelei. Das Maschinenhaus wurde nicht mehr genutzt und mein Vater erhielt die Erlaubnis, dort eine Unterkunft auszubauen. Wir bekamen eine Küche und einen Schlafraum. Tische, Bänke und Betten wurden aus alten Brettern und Dachlatten gebaut. In die Betten kamen Strohsäcke. Irgendwie kam auch ein Herd dazu und unsere Mutter reiste mit uns drei Kindern nach Assel.

Ich erinnere mich gern an diese erste Zeit. Wir Kinder hatten wieder viel Platz zum Spielen, mein Bruder Otto und ich durften wieder zur Schule gehen. Mein Vater ging weiterhin zu den Bauern zur Arbeit und brachte gelegentlich Lebensmittel mit. Milch bekamen wir täglich und manchmal auch Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Es kam die Erntezeit und wir hatten in dieser Zeit von August bis Dezember 1945 vor allem Obst. Es herrschte keine so große Not, unsere Eltern und wir Kinder waren wieder zusammen und glücklich.

Es war kurz vor Weihnachten 1945. Wir Kinder schliefen schon in unseren Etagenbetten. Unsere Eltern weckten uns. Sie weinten, küssten und drückten uns. Wir begriffen gar nicht so recht was los war. Nur die Traurigkeit und Hilflosigkeit unsere Eltern spürten wir. Am nächsten Morgen war unser Vater weg und die anderen gefangenen Soldaten auch. Sie wurden alle in ein Sammellager nach Stade gebracht. Mutter war sehr traurig und sagte, wir hätten lange Zeit nichts mehr von unserem Vater.

Meine Mutter wurde wieder krank, wir Kinder wurden krank. Wir bekamen alle zusammen und nacheinander in diesem sehr kalten Winter 1946 alle Kinderkrankheiten: Mums, Röteln, Windpocken,Masern und Grippe. Meine Tanten Grete und Käthe, die in Kampen bei Otterndorf wohnten, kamen zu Besuch. Tante Käthe blieb bei uns und unterstützte unsere Mutter so gut sie konnte. Wir hatten weder Lebensmittelvorräte, noch Brennmaterial, es fehlte an allem. Tante Käthe ging nun zu demselben Bauern, bei dem auch unser Vater gearbeitet hatte, er hieß Bube. Auch sie brachte uns Milch und manchmal auch andere Lebensmittel mit.

Meine Mutter wurde immer schwächer und hatte Schmerzen. Ich erinnere mich, dass sie an beiden Ellenbeugen ca. 2 cm hohe Türme hatte, die mit Spritzen behandelt wurden.

Die Zeit ging in Richtung Frühjahr und es war wieder einmal nichts mehr da. Mutter schickte Otto und mich zu den großen Bauernhöfen ins Asseler Moor. Wir sollten versuchen, etwas zum Essen zu bekommen. Das war aber nicht so einfach, denn je näher wir an die Höfe kamen, desto lauter bellten die Hunde und sie ließen uns nicht rauf. Wir waren sehr traurig, denn wir wollten auch etwas beitragen und unserer Mutter eine kleine Freude machen. Auf dem Rückweg stiegen wir über einen Zaun um den Weg abzukürzen. Plötzlich trauten wir unseren Augen nicht. Vor uns lag ein großer Haufen mit ziemlich kleinen Kartoffeln. Wir sammelten unseren Beutel voll, liefen nach Hause und Mutter kochte uns ein Essen.

Irgendwann kam die Nachricht, dass unser Vater über Belgien nach England in Kriegsgefangenschaft gekommen war. Es kam auch gelegentlich Post und wir Kinder durften auch mal ein paar Zeilen schreiben.

Mit Hilfe von Tante Käthe versuchte unsere Mutter ein Stück Wiese um zu graben, um dort Gemüse anzubauen. Das kostete sehr viel Kraft, die sie eigentlich nicht hatte. Sie wurde immer schwächer, ließ uns Kinder von ihrem Leid aber nichts anmerken.

Im Sommer 1946 kamen Oma und Opa Falck aus Pommern. Beide hatten dort viel Leid und Entbehrungen ertragen müssen und wurden von den Polen ausgewiesen. Sie kamen bei unserer Tante Grete bei Otterndorf unter und erfuhren dort vom Schicksal unserer Eltern. Obwohl unsere Großeltern von den Strapazen noch geschwächt waren, nahmen sie es auf sich und kamen zu uns nach Assel. Oma erkannte recht bald, dass Mama schwer krank war und sorgte dafür, dass sie nach Freiburg bei Stade in das Krankenhaus kam.

Dort stellte man fest, dass beide Nieren nicht mehr richtig funktionierten und eine schon stark vereitert war. Man entschloss sich zur Operation und eine Niere wurde entfernt. Mutter erholte sich nur sehr schwer. Sie ließ sich aber nichts anmerken und machte auf mich mit ihren roten Wangen einen fröhlichen Eindruck. Heute weiß ich, es war ihre Freude, dass ich da war.

Das letzte Mal als ich sie sah, sie sollte am Abend noch einmal operiert werden, stand ich schon an der Tür uns sagte „ Tschüß“. Sie rief mich und sagte: „ Komm noch mal her, willst Du Mama nicht richtig Wiedersehen sagen? „ Ich blieb an der Tür stehen und sagte schelmisch „Nee“ und ging. Daran muss ich oft in meinem Leben denken und es tut mir

sehr leid. Es war das letzte Mal, dass ich meine Mutter lebend sah. Sie verstarb noch in derselben Nacht an den Folgen der Operation. Es sollte von der zweiten Niere noch etwas entfernt werden. Sie war auch zu schwach und die Ärzte hatten wenige Möglichkeiten, zumal es kein Penicillin gab und auch an anderen Medikamenten mangelte. Oma hatte die ganze Nacht am Bett verbracht und war selber vor Erschöpfung eingeschlafen, als Mama verstarb. Am nächsten morgen, es war der 13. Nov. 1946, erzählte sie uns alles. Sie kam nur schwer damit zurecht. Wir Kinder konnten das gar nicht begreifen, dass Mama nicht mehr wiederkommen konnte.

Ich erinnere mich, dass ich geschrien und geweint habe, bis zum Tage der Beerdigung. Das war der schwerste Tag, den ich nie vergessen werde. Mama war aufgebahrt und sah aus, als schliefe sie. Oma forderte mich auf, mich zu verabschieden. Sie bestand darauf, Mama die Hand zu geben. Als ich sie anfasste, war sie kalt und hart. Ich schrie und weinte und konnte mich schwer beruhigen. Es dauerte lange bis ich begriff, dass sie wirklich tot war.

Winfried´s Patentante Grete Lemcke nahm ihn mit nach Osterwanna, wo sie inzwischen eine Wohnung bekommen hatte. Oma und Opa blieben bei Otto und mir in Assel, wir bewohnten noch immer das ehem. Maschinenhaus. Sie versorgten uns so gut sie konnten, aber es war nicht dasselbe, als Mama noch da war.

Im Januar 1947 versuchten unsere Großeltern mit uns ebenfalls nach Wanna, zu Tante Grete zu ziehen. Es war aber sehr schwierig, in dieser Besatzungszeit eine Zuzugsgenehmigung zu bekommen. Es gelang letztendlich, jedoch musste Opa die Lebensmittelkarten für uns immer aus Assel abholen.

Osterwanna

In Wanna bekamen wir Kinder ein richtiges Zimmer mit einem Doppelstock-und einem Einzelbett. Das Zimmer war auch warm. Unser Opa kam häufig, setzte sich auf einen Stuhl und erzählte aus seinem Leben. Die schönsten Geschichten waren von seiner Seefahrt. Er war schon vor dem ersten Weltkrieg als junger Mann bis nach Afrika gesegelt. Dort gab es Menschen mit dunkler Hautfarbe und wenig, bzw. anderer Kleidung. Manchmal zeigte er uns auch sein auf die Brust tätowiertes Segelschiff. Wenn er in Stimmung war sang er uns auch Seemannslieder vor und dabei glänzten seine Augen. Mit seiner dunklen Stimme sang er auch das Lied „ Ich bete an die Macht der Liebe ... „ Es wurde auch mein Lieblingslied. Sehr spannend waren auch die Geschichten vom Klabautermann und den fliegenden Fischen.

Unsere Tante Käthe bewohnte ein Durchgangszimmer und kam häufig zu uns ans Bett.Sie betete mit uns und wir schliefen dann ruhig und fest. Der Tod unsere Mutter wurde langsam leichter.

Im Mai, so um Pfingsten 1947, kam Papa endlich aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Wir liefen ihm entgegen, freuten uns riesig, herzten und drückten uns. Er freute sich sehr, uns zu sehen, vermisste aber seine Frau unsere liebe Mutter.

Die Arbeitslosigkeit war groß. Unser Onkel Hans Lemcke arbeitete im Ahlenfalkenberger Moor und Papa fing dort auch an. Die Lebensmittelzuteilung, die es auf Karten gab, reichte nicht aus. Papa entschloss sich in einer Fischfabrik in Cuxhaven Arbeit anzunehmen. Dort gab es auch eine Fischzuteilung. Großmutter und Tanten zauberten hervorragende Gerichte daraus. Gelegentlich wurden bei den Bauern auch Fische gegen Milch Eier und Speck eingetauscht.Manchmal brachte Vater auch köstliche Fischkonserven mit, die wir nun noch gar nicht kannten.Die Dosen hatte er von einer Frau bekommen, die in einer Konservenfabrik arbeitete.Eines Tages stellte er uns diese Frau vor. Sie war jung, hatte schönes dunkles Haar und sah gut aus. Ihr Name war Resi. Sie gab uns Kindern je eine Tüte Bonbons. Ich bedankte mich und wollte mich zu ihr auf den Schoß setzen. Resi konnte aber diese körperliche Nähe nicht gut haben und ließ mich durchrutschen. Ich war ca. 12 Jahre alt, verstand aber nicht, dass sie mich nicht lieb haben konnte und war deshalb sehr traurig.Papa, Resi und wir Kinder konnten in ein leerstehendes Bauernhaus ziehen. Wir waren nun wieder eine Familie. Am 22. Jan. 1951 wurde unser Bruder Dieter geboren. Er war ein schönes, liebes Kind und ich war ganz stolz, wenn ich ihn mit dem Kinderwagen ausfahren durfte. Am 16.1.1953 heirateten Papa und Resi. und am 10.3.1957 wurde uns noch ein Bruder Siegward geboren.

In die gegenüberliegende Schule ging ich gerne, war es doch einen willkommene Abwechslung vom Alltag zu Hause. Mein Lieblingslehrer, Herr Rauhe, hatte zwei Töchter und einen Sohn, der später Musikprofessor in Hamburg wurde. Frau Rauhe erteilte Klavierunterricht. Zu Weihnachten studierte sie mit den Schulkindern Krippenspiele und auch Märchen ein. Das machte mir immer sehr viel Spaß. Die 6. bis 8. Klasse wurde von unseren Lehrer Ernst Zerwer unterrichtet. Im letzten Schuljahr sprach dieser mehrfach mit meinem Vater über eine weiterführende Schule. Diesem Thema stimmte Vater nicht zu. Er brauchte mich zu Hause wegen der noch jüngeren Geschwister im Haushalt. Außerdem sei kein Geld da für den Bus und Kleidung. So wurde ich im April 1952 mit einem sehr guten Zeugnis aus der 8. Klasse entlassen.

Nun wollte ich Schneiderin werden, bekam aber erst in Oktober 1952 eine Lehrstelle in Otterndorf, bei E. Hartel. In der Zwischenzeit hatte ich auf einem Bauernhof mit Kost und Logis gearbeitet. Meine Lehrzeit war alles andere als gut. Die Ausbildung wurde einfach umgestellt auf Näherin und bereits nach anderthalb Jahren die Prüfung abgenommen. So wurde ich also Näherin und nicht, wie beabsichtigt, Schneiderin mit drei Jahren Ausbildung.

Die frisch ausgebildeten Kräfte wurden bald zur Akkordarbeit eingesetzt und im Sommer und zu Weihnachten entlassen. Das gefiel mir nicht gut. Die Atmosphäre wurde dadurch zu Hause auch nicht besser und ich flüchtete mich wieder zu einer Arbeitsstelle in der Landwirtschaft, wo ich mich wohl fühlte.

Im Frühjahr 1956 bewarb ich mich auf eine Anzeige bei der Firma A. Erlhoff, in Ellerau, Schleswig – Holstein. Bereits am 20.4.1956 konnte ich dort anfangen. Das war eine meiner besten Entscheidungen, die ich nie bereut habe. Bereits zum 1. Mai (meinem 19. Geb.) gab es 4 Brückentage frei. Ich fuhr also frohgemut mit meinem Koffer nach Wanna. Der Empfang war jedoch nicht sehr freundlich, weil mein Vater glaubte, ich sei bereits nach 10 Tagen aus der Firma entlassen worden. Vater, Resi und meine Geschwister fuhren nach Ihlienworth zu Michel Martin (einem Cousin von Resi). Ich saß nun alleine in Wanna. Dabei wollte ich doch nicht allein über die freien Tage in Ellerau alleine sein und meinen Geburtstag zu Hause feiern. So verbrachte ich also den Nachmittag mit meinen Freundinnen Inge Thomas und Brigitte Sievers.

Ich fuhr also zurück nach Ellerau. Dort bewohnte ich mit Arbeitskolleginnen eine Firmenwohnung. Mit einer Freundin fuhr ich mit der Bahn nach Ulzburg zum Tanztee.

Dort lernte ich meinen späteren Ehemann, Ulrich Hoefer kennen. Wir hatten eine sehr schöne Zeit und verlobten uns Weihnachten 1958. 1961 war es soweit. Ulrich und ich hatten in Alveslohe ein Siedlungshaus gebaut und heirateten im selben Jahr. Am 20.11.1961 wurde unser erster Sohn Dirk geboren. Danach kam am Sylvesterabend 1963 unser Sohn Detlef zur Welt. Unsere Tochter Dörte vervollständigte unser Glück, indem sie uns am 13.11.1968 geschenkt wurde. Wir hatten einen großen Garten. Daraus konnte ich unsere Familie weitestgehend versorgen und unsere Kinder hatten viel Platz. Nach all den Wirren und Nöten in meinem vorherigen Leben hatte ich nun meine eigene Familie, mit der ich viele glückliche und zufriedene Jahre verbringen durfte.

Kaltenkirchen-Brunnen

Kaltenkirchen-Brunnen im Juni 2007

Mein Bruder Otto begann 1954 eine Maurer lehre in Dortmund. Später studierte er Bauingenieur. Er machte sich selbständig und arbeitet in Hamburg als Architekt und Makler.

Winfried begann am 1.5.1955 in Osterwanna eine kfm. Lehre. Später lernte er Betriebswirtschaft und machte sich in Kaltenkirchen selbständig. Am 30.4.2005 gab er seine Versicherung .-Agentur ab.

Wir drei Kinder sind im Norden geblieben und haben das Grab unserer Mutter 50 Jahre erhalten , gepflegt und im Jahre 1996 an die Friedhofsverwaltung Assel zurückgegeben

Unser Vater verzog 1960 mit seiner neuen Familie nach Bechhofen, Rheinland - Pfalz. Dort hatte er Arbeit gefunden und ein Siedlungshaus gebaut. Am 18.2.2001 ist er dort 90-jährig verstorben.

Bericht über eine Reise in den Kreis Cammin

Aus der Zeitschrift “ Camminer Heimatgrüße.“

Am 18.04.2012 machten sich zum wiederholten Mal vier Pommern auf den Weg zunächst nach Gollnow. Die vier Pommern waren: Henrik Stroede aus den USA, Helga Hoefer/ Falck Kaltenkirchen, Winfried Falck Kaltenkirchen und Günter Voigt aus Dortmund. Der Abend endete mit einem essen, zusammen mit einer früheren Bewohnerin aus Lüttmannshagen ( die nach dem Krieg dort geblieben ist ) und ihrem Ehemann. Wir hatten die beiden eingeladen, um auch deren Erinnerungen aus der Zeit nach 1945 kennenzulernen. Es wurde trotz aller Sprachschwierigkeiten eine nette Begegnung.

Hotell-Golnow

Am 19.04.2012 ging es über Stepenitz, den Ort unserer Flucht, zunächst nach Hammer. Das ist der Geburtsort meiner Schwester Helga Hoefer, geb. Falck. Helga fand auch gleich Kontakt zu der jetzigen Bewohnerin, die mit ihrer jungen Familie das Haus unseres Großvaters Otto Falck bewohnt. Es wird eine kleine Landwirtschaft betrieben und Gebäude sowie Grundstück machten im Gegensatz zu früheren Besuchen einen guten Eindruck.

Hammer

Henrik Stroede aus den USA war mitgereist. Henrik konnte viele Kindheitserinnerungen ausgraben. Das Haus, in dem er früher wohnte, stand nicht mehr, er zeigte uns aber noch voller Begeisterung, wo er seinen ersten Hecht aus dem Gubenbach gezogen hat. Henrik kannte jedes Haus in Hammer und konnte Geschichten erzählen. Günter Voigt erinnerte sich an einen Blitzeinschlag und die Löscharbeiten beim Abbrand der Scheune von Otto Falk ( meinem Großvater ) im Jahre 1939

Die Autofahrt ging weiter nach Dischenhagen. Hier konnte Günter Voigt aus dem vollen schöpfen. Günter ist hier geboren und hat hier bis zu seinem 18. Lebensjahr gelebt und steckte voller Erinnerungen.

Dischenhagen Maria und Kinder

Nach dem Besuch des Friedhofes mit dem einzigen erhaltenen Grabkreuz von seinen Vorfahren zeigte er uns Häuser und Grundstücke seiner früheren Mitbewohner. Dazu gehörte auch die Schule und er berichtete über Lehrer Ewald. Höhepunkt für Günter war eine mal wieder sehr herzliche Begegnung mit einer polnischen Familie, mit der er schon seit vielen Jahren vor und nach der Wende engen Kontakt pflegt.

Neu Dischenhagen Waldlager

Auf dem Weg nach Neu-Dischenhagen machten wir vier im Wald ein kleines Picknick. Danach besuchten wir das Grundstück von August Lüdtke, von dem meine Mutter Hilde Falck, geb. Pöpke stammt. In Lüttmannshagen angekommen, machten wir einige Fotos. Das Hausgrundstück von Karl Falck, dem Geburtsort von Winfried Falck, bot einen guten Eindruck, Helga und ich nahmen Kontakt zu den Bewohnern auf. Wir trafen eine junge Studentin an, die dort mit ihrer Großmutter wohnt. Nach einem netten Gespräch auf englisch fuhren wir zurück nach Gollnow. Bei meinen Mitreisenden wurden viele Erinnerungen wach und ich konnte meine Heimat etwas besser kennenlernen. Leider mußte ich sie am 6.3.1945 im Alter von vier Jahren verlassen. Am 20. 4.2012 traten wir unsere Rückreise nach Wismar an. Im Hotel Phoenix trafen wir weitere Pommern aus unseren Dörfern. Bereits zum 18. Mal hatte Hannelore Lünse eingeladen. Gekommen waren zwölf ehemalige Schüler der Schule

Dischenhagen und fünf Angehörige. Günter Voigt aus Dortmund zeigte am Nachmittag einen mit dem Pommernlied beginnenden Diavortrag von unserem Treffen 2011. Es wurden noch weitere Gespräche geführt und Lieder gesungen. Der Abend klang sehr harmonisch aus. Am Sonntag, den 22. 4. 2012 traten nach einem gemeinsamen Frühstück alle die Heimreise an.

Winfried Falck, Kaltenkirchen

Erinnerungen

Pommerland ist Heimatland

Friedhof Dischenhagen

Anekdoten3

Anekdoten2